Nachbericht | Südwestfalenkonferenz – Herausforderungen der Fachkräftegewinnung im ländlichen Raum
Fehlende Fachkräfte sind seit Jahren nicht nur in Südwestfalen ein wachsendes Problem. Vor dem Hintergrund grundsätzlicher Herausforderungen durch den fortschreitenden Strukturwandel wie den demografischen Umbau der Gesellschaft und der Digitalisierung der Arbeitswelt, sind Industrie und Wirtschaft bei der Bekämpfung des Mangels an qualifizierten Arbeitskräften ebenso gefordert wie zahlreiche Behörden.
Deswegen gilt die Sicherung nachwachsender Fachkräfte und zusätzliche Gewinnung kompetent ausgebildeter Mitarbeiter_innen als elementare Voraussetzung für den Bestand kleiner und mittlerer Unternehmen als Stabilisatoren für Regionen, wie eben auch Südwestfalen mit seinen fünf Kreisen. Für die betroffenen Firmen und auch regionalen Akteure aus Nordrhein-Westfalens führender Industrieregion ist dadurch auch von existenzieller Bedeutung, den rasanten Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt mit zeitgemäßen und tauglichen Konzepten für ihre Personalbestände zu begegnen.
Die „Herausforderungen der Fachkräftegewinnung im ländlichen Raum“ waren denn auch bei der gut besuchten Südwestfalenkonferenz im Dorint Hotel Arnsberg das übergeordnete Leitthema. Unter der Leitung einheimischer Bundes-, Landes- und Regionalpolitiker_innen analysierten Bürger_innen und Vertreter_innen aus Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und Politik in den Fachforen „Gesundheit/Pflege“ (Nezahat Baradari, MdB), Industrie/Handwerk (Christin-Marie Stamm, MdL), Tourismus/Gastgewerbe (Bettina Lugk, MdB) und Öffentliche Verwaltung (Nicole Reschke, Bürgermeisterin der Stadt Freudenberg) sachbezogen die Situation, tauschten bisherige Erfahrungen aus und erörterten neue Wege bei der Suche nach immer zahlreicher fehlenden Fachkräften in den unterschiedlichsten Branchen.
„Der Fachkräftemangel wird von vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen als größtes Geschäftsrisiko eingeschätzt. Wenn dabei die Städte vom demografischen Wandel verstärkt wachsen, blutet der ländliche Raum weiter aus. Antworten werden deshalb dringend benötigt“, skizzierte Sohel Ahmed vom gastgebenden Landesbüro NRW der Friedrich-Ebert-Stiftung in seiner Begrüßung der Teilnehmer_innen die Problemstellung.
Ebenso eindringlich stimmte Arnsbergs Bürgermeister Ralf Paul Bittner durch die Beschreibung der Situation in seinem Rathaus auf die Veranstaltung ein. „Zwischen 2019 und 2022 ist die Zahl unserer Stellenausschreibungen um 40 Prozent gestiegen und die Zahl der Bewerbungen um 40 Prozent gesunken. Wir müssen uns als Verwaltung damit befassen, wie wir wenigstens unsere Kernaufgaben erfüllen. Dabei geht es nicht um Kür, sondern um Pflicht. Noch gelingt uns das, aber nur mit viel Aufwand und manchmal nur unter Schmerzen“, berichtete der SPD-Politiker.
Der Bundestagsabgeordnete Dirk Wiese schlug in seiner Begrüßungsrede von den Schwierigkeiten in der Region den Bogen zu bundespolitischen Lösungsansätzen. „Wenn ein aus sozialdemokratischer Sicht zunächst begrüßenswerter Arbeitnehmermarkt so kippt, dass anfallende Aufgaben, Arbeiten und Tätigkeiten nicht mehr erledigt werden können, müssen wir uns fragen, wie man vorankommt. Unter zahlreichen Ansätzen sind auch viele, dass die Region industrie- und wirtschaftspolitisch erfolgreich bleiben kann. Wichtig ist dabei auch die Fachkräftestrategie der Bundesregierung, in der sich die Ampelkoalition darauf verständigt hat, über die Frage des Chancenaufenthaltsrechtes hinaus jenen Menschen, die bei uns bleiben, eine klare Arbeitsperspektive zu geben in Verbindung mit einem modernen Einwanderungsrecht, das wiederum mit der Anerkennung ausländischer Abschlüsse dazu führt, dass sich Deutschland öffnet“, konstatierte der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und fügte mahnend hinzu: „Verschiedene Diskussionen der vergangenen Wochen machen uns bei Fachkräften im Ausland nicht zum Wunschland Nummer eins. Wenn man ihnen in Deutschland außerdem Steine in den Weg legt wie beim Familiennachzug, wandern sie eben in andere Länder aus – auch in Polen oder Tschechien werden Fachkräfte benötigt.“
Im anschließenden Impulsvortrag erläuterte Prof. Dr. Carsten Knaut von der Technischen Hochschule Köln die veränderten Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt. Dabei schenkte der Wissenschaftler dem Bedarf von Unternehmen an qualifiziertem Personal großen Stellenwert.
Aus Knauts Sicht ist der vorherrschende Fachkräftemangel ein Ergebnis, außer von einer generell stetig sinkenden Zahl von Erwerbstätigen, („Es sind nirgendwo mehr Arbeitskräfte, es fehlen Menschen, die ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen“) vor allem von überholten Wirtschafts- und Unternehmensphilosophien. „Der Paradigmenwechsel, dass Kandidat_innen Bewerbungen momentan eigentlich gar nicht nötig haben und sich in vielen Branchen aussuchen können, wo sie arbeiten möchten, ist in vielen Unternehmen noch gar nicht angekommen. Außerdem sind der absolut wertvolle Begriff der ‚New Work‘ und die Diskussion über seine Inhalte in die falsche Richtung gelaufen. Wer darüber sprechen möchte, sollte über soziale Eingebundenheit, Autonomie und Kompetenz sprechen, das sind die wichtigen Faktoren, für die durch Kreativität sogar in Betrieben mit drei Schichten Raum geschaffen werden kann“, meinte der Forscher mit den Fachgebieten Personal und Digitale Arbeitswelt in seinem lebendigen und trotz aller Ernsthaftigkeit unterhaltsamen Vortrag: „Kandidat_innen für einen Arbeitsplatz müssen im heutigen Arbeitnehmermarkt schleunigst wie Kund_innen behandelt werden.“ Dazu gehören nach seiner Meinung vorrangig die aktive Ansprache ebenso wie die Identifizierung von Bedürfnissen potenzieller Mitarbeiter_innen.
Entsprechend schickte Knaut die Veranstaltungsteilnehmer_innen mit drei Leitthesen in die nachfolgenden Fachforen. „Vorhandene Fachkräfte sollten unter allen Umständen gehalten werden. Es ist günstiger, jemanden zu halten, als jemand Neues zu gewinnen, und tut auch weniger weh. Wenn man aber neue Fachkräfte sucht, muss man herausfinden, wie man auf sein Unternehmen aufmerksam machen und ins Gespräch kommen kann, und dass einem zugehört wird. Dabei eröffnen sich Firmen, Organisationen und Institutionen neue Ideen, indem man sich auf einen Perspektivwechsel einlässt und versucht herauszufinden, was der umworbene Mensch wirklich möchte“, erläuterte Knaut seine Position. Sein Schlussfazit: „Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler.“
Auf Grundlage von Knauts Analysen beleuchteten die Fachforen die Problematik aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Nezahat Baradari, Christin-Marie Stamm, Bettina Lugk und Nicole Reschke stellten im Abschlusspanel für ihre jeweiligen Themenbereiche zahlreiche Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen vor.
Für das Themenfeld Gesundheit/Pflege als „Zukunftsbranche und wichtigen Standortfaktor für Deutschland“ sprach die SPD-Gesundheitspolitikerin Baradari von der Notwendigkeit einer „Transformation, die eine Zeitenwende auch im Gesundheitssektor bedeutet“. Gesundheit und Pflege müssten „neu gedacht werden“, dazu zählte die Bundestagsabgeordnete einen positiven Imagewandel der Bilder von Pflege- und Gesundheitsberufen ebenso wie Pläne für familienfreundliche Arbeitszeitstrukturen. Auch seien zur Prävention „tiefgreifende Veränderungen“ notwendig, „Normen und Strukturen müssen regelmäßig auf ihre Aktualität und Sinnhaftigkeit überprüft werden“. Zur Stabilisierung der Fachkräfte-Situation im medizinischen Bereich sprachen sich die Forum-Teilnehmer_innen laut Baradari für weitere Verbesserungen der Ausbildungen mit attraktiven Bedingungen für eine Anschlussbeschäftigung sowie einfachere Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen aus.
Bildung und Ausbildung räumte auch das Forum „Industrie/Handwerk“ noch vor infrastrukturellen Verbesserungen besonders im Nahverkehr hohen Stellenwert ein. Neben der weiteren Förderung des dualen Systems befürwortete Christin-Marie Stamm eine Aufwertung von Ausbildungen gegenüber einem Studium.
Solch ein Paradigmenwechsel in der öffentlichen Wertschätzung bildete im Forum „Tourismus/Gastgewerbe“ einen Schwerpunkt. „Für die Suche nach qualifiziertem Personal ist beim Blick auf die Ausbildungssituation wichtig, wie die Jugendlichen beraten werden und wer auch mal den Tipp gibt, sich nach dem Gymnasium auch einmal für einen Ausbildungsberuf zu interessieren und nicht direkt zum Studium zu gehen. Dabei können auch die Gymnasien Impulse setzen, indem verstärkt Ausbildungsmessen besucht werden und damit Schüler_innen mit eher praktischen Begabungen eine Chance zu geben und einem Gefallen zu tun. Die besten Eigenschaften eines Menschen zu fördern, muss auch nicht immer der Weg zum Abitur sein“, fasste Bettina Lugk die essenziellen Ergebnisse der Gruppe zusammen.
Das Forum „Öffentlicher Verwaltung“ arbeitete gleich mehrere Ansätze zur Steigerung der Attraktivität des Sektors heraus. Nicole Reschke regte „Maßnahmenbündel“ an. Dazu könnten im Idealfall Imagekampagnen, eigenständige Ausbildungsmessen, weiter gefasste Ausschreibungen und ebenfalls einfachere Zugänge für Menschen mit Abschlüssen aus dem Ausland gehören.
In seinem Abschlussfazit hob Wiese vor allem auf die Vorstöße zur Aufwertung von Berufsausbildungen ohne Studium hervor „Es kann ja sogar auch im persönlichen Werdegang eines jeden von uns immer einmal etwas dazwischen kommen, dann ist aber wichtig, dass man Unterstützung bekommt, nicht zur Seite geschoben wird und Durchlässigkeit gegeben ist“, sagte Wiese und sah in den zahlreichen Vorschlägen auch Zeichen für Optimismus bei der Bekämpfung des Fachkräftemangels: „Die Patentlösung ist noch nicht da, aber es geht immer auch um einzelne Puzzleteilchen, und davon können wir alle auf unterschiedlichsten Ebenen etwas mitnehmen.“
Quelle: FES